Haben Sie Schmerzen? Wie stark sind sie?“ – Um etwas über das persönliche Empfinden ihrer Patienten zu erfahren, sind Ärzte darauf angewiesen, dass diese ihren Schmerz beschreiben. Wo, auf welche Art und wie intensiv sie einen Schmerz erleben, wissen nur sie selbst. Doch was ist, wenn sie dazu nicht in der Lage sind? Wenn sie das, was sie spüren, nicht in Worte fassen können? Wissenschaftler der Ulmer Universitätsklinik setzen in diesem Fall auf Künstliche Intelligenz. Ihr Ziel ist eine automatisierte Schmerzerkennung.
„Schmerzwahrnehmung ist etwas sehr Subjektives. Jeder empfindet Schmerz anders und oftmals ist es gar nicht einfach, ihn anderen zu beschreiben – selbst für Menschen ohne sprachliche und kognitive Einschränkungen“, erklärt Prof. Harald C. Traue. Der Wissenschaftler leitet die Sektion Medizinische Psychologie am Universitätsklinikum Ulm und beschäftigt sich schon seit vielen Jahren mit Schmerz. „Besonders schwierig ist es aber für Kinder, Patienten aus anderen Kulturräumen, Bewusstlose und Menschen mit Demenz oder anderen kognitiven Einschränkungen.“ Gemeinsam mit Forschern der Universität Magdeburg arbeiten die Ulmer Wissenschaftler deshalb daran, Schmerzen mit technischen Mitteln objektiv messbar zu machen.
Wie das möglich ist? Die Forscher werten Reaktionen der Haut, der Muskulatur, der Atmung, des Kreislaufes sowie das mimische Verhalten bei Schmerzen aus. „Wenn wir Schmerzen empfinden, reagiert unser Körper. Wir zucken zusammen, verziehen das Gesicht, schwitzen an den Händen“, erklärt der 66-Jährige. „Diese Reaktionen können so gering sein, dass der Mensch sie unter Umständen gar nicht wahrnehmen kann.“ Bei der automatisierten Schmerzmessung werden hierfür sensible maschinelle Erkennungsverfahren eingesetzt.
Um herauszufinden, welche Merkmale Aufschluss über das subjektive Schmerzerleben eines Menschen geben können, führten die Wissenschaftler eine experimentelle Schmerzstudie durch. 96 freiwillige Testpersonen wurden hierbei einem Hitzeschmerz in vier unterschiedlichen Intensitäten ausgesetzt. „Man misst den Hitzereiz, der anfängt schmerzhaft zu sein und den Hitzereiz, den der Proband gerade noch aushalten kann. Das ist bei jedem Menschen unterschiedlich“, sagt Traue.
Die körperliche Antwort auf die Schmerzreize haben die Forscher mit Hilfe von hoch auflösenden Sensoren und speziellen Kameras gemessen. „Dadurch entsteht ein sehr großer Datenstrom. Die Bedeutung für den Schmerz kann nur mit komplexer Biosignalanalyse und der Verarbeitung mit Methoden der Künstlichen Intelligenz bewältigt werden“, erläutert Sascha Gruss. Der Wissenschaftliche Mitarbeiter in der Sektion für Medizinische Psychologie promovierte über die automatisierte Schmerzerkennung und wurde dabei von Traue betreut.
„Die Künstliche Intelligenz erkennt Muster in den Daten der Probanden und kann so ein Merkmal-Set erstellen, das Schmerz und Nicht-Schmerz unterscheiden und die Intensitäten objektiv messen kann“, erklärt der 42-Jährige. Die Wissenschaftler fanden dabei heraus, dass die Aktivität der Gesichtsmuskeln, der elektrische Hautwiderstand, der Abstand zwischen Augenbraue und Mundwinkel sowie die Faltenbildung an der Nasenwurzel für die Schmerzintensität am aufschlussreichsten sind.
Am genauesten seien die automatischen Erkennungsalgorithmen allerdings, wenn das System auf die einzelnen Probanden eingestellt und auf die Erkennung ihrer Reaktionen hin trainiert wurde. Bei starken Schmerzreizen seien hier Genauigkeiten von 94 Prozent erreicht worden, bei schwachen Schmerzreizen immerhin 59 Prozent. Wurde das System nicht auf die einzelnen Personen kalibriert, betrug die Genauigkeit bei starken Schmerzreizen noch zwischen 74 und 91 Prozent. Bei leichteren Schmerzen sei die automatische Erfassung allerdings sehr ungenau. „Generell ist das System besser darin, Schmerz von Nicht-Schmerz zu unterschieden. Einen leichten Schmerz von einem mäßigen Schmerz zu unterscheiden, fällt ihm recht schwer – ebenso wie auch dem Menschen“, erklärt Gruss.
Für den Einsatz im klinischen Alltag sei das System allerdings noch zu ungenau. Eine zweite Studie soll nun weitere Erkenntnisse liefern. Neben hochauflösenden Kameras wollen die Wissenschaftler dieses Mal auch ein Mikrofon einsetzen, um Atem- und Stöhn-Geräusche der Testpersonen aufzuzeichnen. „Eine Genauigkeit des Systems von 100 Prozent wäre natürlich erstrebenswert, das ist allerdings unmöglich“, meint Gruss. „Ein Professor sagte einmal, damit würde man die Götter verärgern. Das stehe dem Menschen einfach nicht zu.“

Zur Person

Prof. Harald C. Traue leitet seit 2003 die Sektion Medizinische Psychologie am Universitätsklinikum Ulm. Der 66-Jährige wurde an der Nordsee geboren. In Berlin, Bremen und Lippe hat er von 1969 bis 1975 Elektrotechnik, Kybernetik sowie Informatik und Kommunikationswissenschaften studiert. 1978 folgte seine Promotion zum Doktor der Humanbiologie an der Universitätsklinik Ulm. Von 1983 bis 1987 war er als Gastprofessor an der University of Calgary in Kanada. 1987 kam er zurück an die Universitätsklinik Ulm und habilitierte für Medizinische Psychologie.
Forschungsgebiete Der Emotions- und Stressforscher beschäftigt sich mit emotionalem Verhalten, Psychosomatik und Verhaltenstherapie, Psychologie,  und Public Health. Von 2005 bis 2010 war er Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft zum Studium des Schmerzes. Seit 2008 ist er Wissenschaftlicher Leiter der Europäischen Donauakademie.